Höchst merkwürdiges Abenteuer eines Luftschiffers
von Heinrich Seidel
Ich bin in ausgesprochenem Grade das, was man ein Gewohnheitstier nennt. So vergeht wohl kein Abend, daß ich nicht zwischen sechs und ein halb acht Uhr in einer Weinhandlung der Potsdamer Straße sitze, Zeitungen zu lesen und meinen Schuppen Moselwein zu trinken. Um diese Zeit ist die beliebte Weinstube nicht stark besucht, man trifft dort dann nur wenige Leute von ähnlichen einsiedlerischen Neigungen oder eine bis zwei kleine Gruppen älterer Männer, die immer an denselben Tischen die Zeitläufte mit vieler Weisheit erörtern. Da sich dieser Besuch aber auf drei Zimmer und eine geräumige Veranda verteilt, so sitze ich, besonders in der warmen Jahreszeit, oft in dem von mir erwählten Raume mit meinen Zeitungen oder allerlei spintisierlichen Gedanken allein. Dies war wieder einmal längere Zeit der Fall gewesen, als sich ein Mann dorthin gewöhnte, der etwa in der Mitte der fünfziger Jahre stand und allabendlich auf demselben Platze seinen Schoppen Leoville trank, ein wenig in den Zeitungen blätterte, und wenn er damit fertig war, eine Zigarre rauchend behaglich vor sich hin sah und langsam seinen Wein ausschlürfte. Nach einer Stunde bezahlte er und ging. Ein starkes Mitteilungsbedürfnis schien er ebenso wie ich nicht zu besitzen, denn niemals redete er mich oder jemand anders an, und außerdem, daß wir uns seit einigen Wochen stummer Bekanntschaft beim Gehen oder Kommen begrüßten, hatten wir keinen Verkehr miteinander.
Ich interessierte mich für diesen Mann seines Aussehens halber. Für sein Alter waren seine Bewegungen noch sehr jugendlich; es hatte den Anschein, als habe er die Kraft und Gewandtheit seines wohlgebauten Körpers durch unausgesetzte körperliche Uebung immer frisch erhalten. Er trug noch sein volles Haar, ohne eine Spur von Gran, seine Gesichtszüge waren markig, über einem schönen, blonden Schnurrbart stand eine etwas gebogene Nase, und seine grauen Augen hatten jenen festen, ruhigen Adlerblick, der nicht in Studierstuben gewonnen wird, sondern Leuten eigen ist, die sich im Freien mit allerlei Gefahren vertraut gemacht haben.
Der Mann mußte vieles erlebt haben, das sah man ihm an, und wenn meine Aufmerksamkeit sonst nicht abgezogen wurde, ertappte ich mich öfter darüber, daß ich nachgrübelte, welch ein Beruf ihm wohl eigen sein, und welche Schicksale er wohl erlebt haben möchte.
Da geschah es eines Tages, am Ende des Junis, daß ausnahmsweise der Tisch, an den ich mich gewöhnt hatte, besetzt war von einer etwas lärmenden Gesellschaft junger Leute, die irgend ein für sie erfreuliches Ereignis eifrig mit Wein begossen. Der einzige Platz, der ausserdem gutes Licht zum Lesen darbot, fand sich an dem Tisch des Unbekannten, und ich setzte mich nach gewohntem Gruße dorthin mit jenem stillen Groll, der einem von seinem gewohnten Orte vertriebenen Stammgast eigen ist. Der Unbekannte schien auch eben erst gekommen zu sein, denn er war mit dem Studium der Weinkarte beschäftigt, ausnahmsweise, wie ich hinzufügen muß, denn sonst brachte ihm der Kellner ungeheißen den gewohnten Schoppen. Nach einer Weile bestellte er eine Flasche Rauenthaler Auslese von, ich weiß nicht mehr welchem, berühmten Jahrgange. “Ei, da geht’s ja heute hoch her,” dachte ich. Der Wein wurde gebracht, er drehte die Flasche eine Weile sorgfältig im Eiskübel herum, schenkte ein, hob das Glas gegen das Licht, nahm ein Schlückchen und ließ es, indem er Luft durch die gerundeten Lippen einzog, prüfend über die Zunge gleiten, trank noch einmal, nickte befriedigt und setzte das Glas vor sich hin. Ein gewisses Etwas in dem Benehmen des Mannes sagte mir, daß er sich heute in einer mitteilsamen Stimmung befände, und nachdem er sein Glas wohlgefällig geleert und wieder gestillt hatte, redete ich ihn an.
“Ein köstlicher Tropfen!” sagte ich.
Er brummte mir Beifall, hielt auch dieses Glas gegen das Licht, erfreute sich eine Weile an dem goldklaren Schein seines Inhaltes und trank. Dann sagte er: “Ich versteige mich sonst nicht leicht so hoch, aber heut ist für mich ein kleiner Erinnerungstag. Heute vor zwanzig Jahren trank ich solchen Wein viertausend Meter über Berlin und erlebte dort ein sehr merkwürdiges Abenteuer.”
Ich muß ihn wohl etwas verblüfft angesehen haben, denn er lächelte und fügte erläuternd hinzu: “Ich war nämlich früher Luftschiffer, mein Herr.”
“Ach so,” sagte ich etwas erleichtert, denn ich hatte schon geglaubt, es rapple ein wenig bei dem Fremden. Dieser fuhr fort: “Nach dem großen Kriege mit Frankreich kam bekanntlich die Luftschiffahrt sehr in Mode, und da ich durch einen Freund, mit dem ich oft aufgestiegen war, einige Vorkenntnisse in dem Fach hatte, so gab ich meinen Beruf als Turn- und Fechtlehrer einstweilen auf, baute mir den Riesenballon Zaunkönig und habe dann das Geschäft fünfzehn Jahre lang betrieben.”
“Warum Zaunkönig?” fragte ich. “Ein komischer Name für einen Riesenballon.”
“Nun, kennen Sie nicht das Märchen vom König der Vögel? Da flog doch der Zaunkönig bei dem großen Wettfliegen am höchsten, weil er sich in den Federn des Adlers versteckt hatte und erst anfing zu fliegen, als dieser nicht mehr weiter konnte. Sie waren übrigens wohl in jener Zeit nicht in Berlin? Ich bin damals mit meinem Ballon Zaunkönig von der Hasenheide aus wohl fünfzigmal aufgestiegen.”
“Ich befand mich damals in Berlin,” erwiderte ich, “doch ist mir dies entgangen. Uebrigens wie war es mit dem Abenteuer?”
Ein merkwürdig feines und seltsames Lächeln kräuselte sich um den Mund des Fremden, “Disse Geschicht’ is lögenhaft tau vertellen,” sagte er, “wie es von dem Wettlauf zwischen dem Swinegel und dem Hasen heißt, und ich fürchte, Sie werden mir nicht glauben. Können Sie viel vertragen in dieser Hinsicht?”
“Das Stärkste,” erwiderte ich. “Ich arbeite selbst in dem Fach.”
“Nun gut, daraufhin will ich es wagen. Also heute vor zwanzig Jahren war ein ganz ungewöhnlich stiller, sonniger Junitag, an dem sich kein Lüftchen rührte. Mein Freund, der alte Weinhändler Bötefür, meinte scherzweise, ich würde wohl heute auf denselben Fleck wieder herunterkommen, von dem ich aufgestiegen wäre. Er wußte aber ebenso gut wie ich, daß, wenn unten auch vollkommene Windstille herrscht, in der oberen Luft doch immer eine gewisse Strömung geht. Ich hatte beschlossen, den günstigen Tag zu benützen, um einmal ganz besonders hoch aufzusteigen, und dies wurde dem zahlreich versammelten Publikum angekündigt, während Bötefür diese meine Absicht schon um Mittag von mir erfahren hatte. Der alte Herr nahm ein ganz besonderes Interesse an mir und meinen Fahrten und fehlte nie, wenn ich aufstieg. Heute kam er kurz vor der Abfahrt und brachte mir eine wohleingewickelte Flasche Wein. Rauenthaler Auslese, sagte er, ich habe nur die eine Flasche noch von diesem köstlichen Jahrgang. Wenn Sie den höchsten Punkt erreicht haben, da trinken Sie ein Glas davon auf mein Wohl. Ich denke mir, das wird von ganz besonderer Wirkung sein, und ich kann dann sagen, mein Wohl ist schon in so und so viel tausend Meter Höhe über dem Meeresspiegel getrunken worden.
Ich lachte über den alten Kauz und legte die Flasche in die Gondel. Als ich aufstieg, rief er mir noch nach:
Nun, heute werden Sie wohl die Engel im Himmel zu sehen kriegen! Grüßen Sie Petrus von mir!
Der Aufstieg ging bei dem stillen Wetter glatt und ruhig von statten.
Als der Auftrieb nachließ, löste ich langsam nacheinander die Schnüre der Sandsäcke, und während ihr Inhalt in taktmäßigen Pausen wie ein weißer Strahl in die Tiefe fuhr, stieg ich zu immer reineren Höhen auf. Das Geräusch der Welt war längst verstummt, unter mir lag Berlin, von seinem eigenen Dunste leicht verschleiert, wie ein riesiges Spinnennetz, und die Eisenbahnzüge krochen wie kleine Raupen hinein und heraus. In der Tiefe kreiste ein Falke und warf mir zuweilen einen schnellen Flügelblitz zu. Trotzdem auch er im Steigen begriffen war, ward er doch bald zum Punkt und entschwand meinen Augen. So war ich eine ganze Weile gestiegen, als ich bemerkte, daß mein Ballast zu Ende ging. Eine Anzahl von Sandsäcken mußte ich mir für allerlei Möglichkeiten bei der Niederfahrt aufbewahren, auch hatte sich der zuerst noch schlaffe Ballon in der leichteren Luft ausgedehnt und war stramm gefüllt. Ich hatte die größte unter diesen Umständen mögliche Höhe erreicht. Mein Barometer zeigte gegen 4000 Meter an. Der Montblanc ist nur 800 Meter höher. Es war empfindlich kalt, mich fror ein wenig, und ein bißchen Schläfrigkeit kam über mich. Da fiel mir die mitgenommene Flasche in die Augen. Sie enthielt rheinischen Sonnenschein an einem der heißesten Jahre dieses Jahrhunderts und konnte mir willkommene Erwärmung bringen. Ich wickelte die Flasche aus und fand, daß der vorsorgliche Weinhändler ein Trinkglas über den Hals gestülpt hatte. Dann öffnete ich sie. Nie in meinem Leben habe ich so etwas von Blume an einem Weine gespürt; ein so edles Getränk war noch nie über meine Lippen gekommen. Von Dankbarkeit gegen den Geber erfüllt, hob ich das Glas empor und rief: Herr Johannes Bösefür ist ein edler Mann, er lebe hoch! viertausend Meter hoch! Hurra!
Dann trank ich behaglich ein Glas nach dem andern. Ich führte bei meinen Luftfahrten sonst nie alkoholische Getränke mit, daher war mir diese Kneiperei mitten in dem unendlichen Luftozean, wo ich als einsamer Punkt schwamm, ganz etwas Neues. Ich geriet in eine seltsam träumerische Stimmung und hatte allerlei Gesichte. So stellte ich mir zum Beispiel plötzlich vor, wie unzählige Menschen in und um Berlin zu mir emporschauten, und sah sie deutlich vor mir, eine blitzschnelle Reihenfolge von Gestalten, hübsche Mädchengesichter, die unter Blumenhüten hervorschauten, und Köpfe alter, schrumpliger Mütterchen, von Spitzenhauben eingerahmt, Sonnenbrüder, die, faul auf Bänke gerekelt, schnapsrote Nasen zu mir emporhoben und die Lippen zu faulen Witzen verzogen, einen einsamen Schäfer im Felde, auf seinen Stock gestützt, einen Feldjäger, der auf der Chaussee ritt, und so noch Unzähliges. Auch Herrn Bötefür sah ich. Er hatte den Kopf so weit in den Nacken gelegt, daß sein breiter weißer Bart horizontal stand; sein gutes, rundes, rötliches Weingesicht leuchtete wie die Sonne, die im Nebel aufgeht. Seine Lippen bildeten Worte; ich hörte sie zwar nicht, verstand dennoch aber ganz deutlich: Grüßen Sie Petrus von mir!. Aus solchen und ähnlichen wunderlichen Träumereien wurde ich aufgeschreckt, als ich plötzlich in dieser ungeheuren Einsamkeit des Luftmeeres Stimmengemurmel vernahm und dazwischen ein Jauchzen wie von munter spielenden Kindern. Verwundert sah ich nach den Seiten und endlich hinter mich. Wo war denn mit einemmal das mächtige Wolkengebirge hergekommen? Wie eine Felswand, aufgetürmt aus mächtigen Ballen weißer Watte, stieg es aus der Tiefe empor, und als ich höher blickte, ward meine Verwunderung noch größer, denn oben wurde diese Wand gekrönt durch einen überaus prächtigen Palast von durchscheinendem Alabaster, dessen goldene Zieraten in der Sonne blitzten. Auf den Wolken, die dieses schimmernde Gebäude umschwebten, bald es zum Teil verdeckten, bald mit neuem Glanze wieder hervortreten ließen, tummelte sich eine Unzahl von geflügelten Kindern:
Auf den Wolkenbänken saßen Ros’ge Engel reihenweise — Andre lauschten aus den Wolken, Andre schwebten hin und wider; Spielten hier mit Wolkenflocken, Ritten dort auf einem Wölkchen — Und es war ein stillbewegtes, Schimmernd rosiges Getümmel.
Auf der breiten Freitreppe aber von weißem Marmor, die zu diesem Wunderbau hinführte, standen einige alte, würdige Patriarchen und sahen unter verwunderten Ausrufen und Gesprächen auf meinen Ballon hin. Der ansehnlichste unter diesen trug einen langen, weißen Bart und eine Stirnlocke in der Form einer Flamme: in der Hand hielt er einen großen goldenen Schlüssel. Da wußte ich mit einemmal, woran ich war, öffnete schnell noch einen Sandsack, wodurch der Ballon ein wenig stieg, und warf den Leuten ein Tau zu. Der eine der Patriarchen fing es auf, und nun ward mein Ballon herangezogen. Ich band ihn au einen goldenen Ring, der in das Mauerwerk eingelassen war, und stieg aus.
Na, hören Sie mal, sagte der Mann mit der Stirnlocke, auf die Art ist hier noch keiner angekommen.
Habe ich die Ehre, fragte ich, Herrn Himmelspförtner Petrus vor mir zu sehen?
Jawohl, mein Name ist Petrus, erwiderte er. Sie wünschen?
Ich habe Ihnen einen schönen Gruß zu bestellen von Herrn Bötefür aus Berlin.
Danke schön, obgleich ich Herrn Bötefür nicht kenne, hoffe aber sehr, später einmal seine werte Bekanntschaft zu machen. Was hat der Mann für ein Geschäft?
Er ist Weinhändler.
Da machte der gute, alte Petrus ein bedenkliches Gesicht und kratzte sich hinter dem Ohr. Da sieht’s windig aus mit der späteren Bekanntschaft, sagte er, Weinhändler kommen hier nur sehr selten her. Sie haben immer so kleine Geschäftsgeheimnisse, die ihnen hinderlich sind. Sie logieren meist eine Etage tiefer. Hören Sie ’mal, Niquet, sagte er dann zu dem Alten, der das Tau aufgefangen hatte, ,Sie sind ja ans Berlin und waren auch Weinhändler; wie steht es mit Bötefür?
Es ist’n ordentlicher Mann, Herr Oberpförtner, antwortete dieser.
Na, dann wollen wir das Beste hoffen.
Ich hatte mich unterdessen neugierig umgesehen, und da war mir eine wunderschöne Thür aufgefallen, von Elfenbein mit Gold beschlagen, die in das Innere dieses herrlichen Palastes zu führen schien. Hinter ihr ertönte eine wunderbare Musik, wie von Aeolsharfen in wechselnden Harmonien; bald schwollen die Töne gewaltig an, bald säuselten sie sanft, dem Weste gleich, der über Veilchenbeete weht.
Verehrter Herr Oberpförtner, da ich nun einmal hier bin, so erfüllen Sie mir einen sehnlichen Wunsch. Darf ich einen Blick thun auf das, was hinter jener Thüre ist?
Da wurde der alte Herr sehr ernst und runzelte die Stirn.
Lieber junger Mann, sagte er, das ist ein sehr vermessener Wunsch, denn irdische Augen ertragen nicht den vollen Glanz des himmlischen Lichtes; es würde sie vernichten. Schauen Sie her!
Damit ging er an die Thür und schob nur die Klappe vom Schlüsselloch zurück. Da fuhr ein blendender Strahl heraus wie eine lange, scharfe Klinge von weißglühendem Eisen, daß ich entsetzt die Hände vor das Gesicht schlug und die Stufen hinabgetaumelt wäre, wenn der alte Niquet mich nicht gehalten hätte.
Petrus und die Patriarchen lächelten sanft, die kleinen Engel aber erhoben ein lautes Gekicher.
Erklären Sie uns lieber Ihr sonderbares Fahrzeug, sagte Petrus dann, das ist doch wohl ein sogenannter Luftballon?
Ich war dazu gern bereit, stieg in die Gondel und erklärte dem alten Herrn alles, die Anwendung der Sandsäcke, die Füllung des Ballons, das Ablaßventil, meine Instrumente und die ganze Bauart des Luftschiffes. Unterdes kletterten die Engel in dem Tauwerk herum und tanzten auf der oberen Rundung; der Ballon wimmelte von ihnen, und sie umschwärmten ihn wie die Fliegen einen Honigtopf. Kinder, sagte ich, daß mir keiner von euch an der Ventilschnur zieht — dann gibt’s ’n Unglück!
Der alte Niquet hatte mit kundigem Auge die Weinflasche entdeckt. Er nahm sie und las die Aufschrift. Eine gute Nummer — wenn’s wahr ist, meinte er.
Belieben Sie vielleicht zu kosten? sagte ich.
Er schenkte sich ein und prüfte wie ein alter Kenner. Dann goß er den Rest, der noch in der Flasche war, in das Glas und bot es Petrus dar.
Wie wär’s, Herr Oberpförtner, das ist wirklich Nummer Eins.
Petrus machte ein wunderliches Gesicht, er schien nicht recht zu wissen, ob sich es auch für ihn passe. Seit achtzehnhundert Jahren hab’ ich keinen Wein mehr probiert, sagte er dann; nun, der Wissenschaft halber möcht’ ich’s wohl riskieren. Dann sog er wohlgefällig den herrlichen Duft ein und trank mit Gefühl in kleinen Schlückchen das Glas leer. Seine Züge hatten sich verklärt.
In manchen Dingen ist die Welt doch fortgeschritten, sagte er, so etwas kannte man zu meiner Zeit noch nicht.
Der Wein ist von Bötefür, sagte ich darauf mit Beflissenheit.
Ich denke, antwortete er, ich habe doch noch Aussicht den Mann kennen zu lernen. Wer solchen Wein in seinem Keller hat, kamt kein schlechter Mensch sein.
Während wir nun so miteinander diskurierten, hörte ich plötzlich ein Geschrei, das ich nicht verstand; ich hatte aber das Gefühl, es ginge mich an.
Wer schreit denn hier so? fragte ich.
Hier schreit niemand, sagte Petrus, hier wird überhaupt nie geschrien.
Diese Antwort kam aber wie aus weiter Ferne, und ich sah niemand mehr: Petrus, die Patriarchen, die Engel, das schöne Schloß und alles war verschwunden. Ich riß die Augen auf und bemerkte ringsum nichts als die leere Luft. Das Geschrei aber dauerte fort. Ich blickte über Bord und sah Wasser unter mir mit Kähnen, auf denen Leute saßen und mir zuschrieen. Der Ballon sank und war nur noch höchstens hundert Meter über dem großen Müggelsee. Wie der Blitz stürzte ich zu und zog die Schnüre an den letzten Sandsäcken. Das half, der Ballon hielt sich eine Zeit lang in gleicher Höhe und segelte dann langsam sinkend, von einem leisen Luftzuge getrieben, dem Ufer zu. Mit knapper Not entging ich dem Wasser und kam auf einer Wiese bei Rahnsdorf, mit Hilfe herzueilender Leute, glücklich ans Land. Noch am selbigen Abend war ich wieder in Berlin und konnte meinem Freunde Bötefür dies höchst merkwürdige Abenteuer erzählen und ihm Glück wünschen dazu, daß er sich für die Zukunft da oben einen so guten Freund erworben habe.”
Der fremde Herr hatte während der Erzählung seinen Wein nicht vergessen und die Flasche war unterdes leer geworden. Die Bezahlung hatte er im Laufe des Gespräches, als gerade der Kellner vorüberkam, ebenfalls abgemacht, und kaum hatte er das letzte Wort hinter sich, als er sich erhob und nach Stock und Hut griff. “Ja, es passieren die wunderlichsten Geschichten,” sagte er, “man sollt’ es kaum für möglich halten. Ich habe die Ehre, mein Herr.”
Und fort war er.
Ich sah ihm etwas verblüfft und nicht ganz befriedigt nach. Ueber einige dunkle Punkte in dieser Geschichte hätte ich ihn gern um Aufklärung gebeten. Ich vertröstete mich auf den nächsten Tag, allein er kam nicht, während er sich doch sonst so regelmäßig einfand. Er ist seitdem überhaupt nie wieder in diese Weinstube gekommen und die dunklen Punkte werden für mich wohl ewig dunkel bleiben. Vielleicht geht er jetzt wieder zu Bötefür. Längst schon hätte ich ihn dort ausgesucht, aber im Adreßbuch ist ein Weinhändler dieses Namens nicht zu finden. Er wird am Ende schon bei Petrus sein.
Der Text folgt der Ausgabe: Erzählende Schriften von Heinrich Seidel, Sechster Band, Phantasiestücke, Stuttgart 1900.
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